Sonntag, 24. Februar 2013
W, den 24. Februar
lukretia, 11:41h
Mama.
Es ist so schwierig, einen Brief an dich zu richten. Ich frage mich zuallererst, wie ich dich ansprechen soll. Mama. Eigentlich möchte ich dich gar nicht so nennen. Ich fange neu an.
Sigrid.
Lange haben wir uns nicht gesprochen. Zuletzt im Sommer, als ich daheim war. Nein, ich vertue mich. Zuletzt an Omas Beerdigung. Du sahst abgezehrt aus. Deine Haare waren ganz struppig, bemerkte Papa- ich habe nur deine weiche Haut an meiner Wange gespürt, als wir uns flüchtig begrüßten. Mehr wie ein Schmetterlingskuss. Gerade denke ich, dass es von mir gut gewesen wäre, dich an meine Seite, und in die erste Reihe mitzunehmen. Ich hasse mich gerade dafür, dass ich dich so kühl und kurz begrüßt habe.
Beim Leichenschmaus wurde natürlich über dich geredet. Tante E. hat wohl mitbekommen, dass du über wen auch immer gelacht hast, und dich zurechtgewiesen. Sie ist ja nie um ein harsches Wort verlegen. E., die, als sie den Eiffelturm zum ersten Mal sah, meinte: „Den hättense aber auch mal putzen können!“. Es tat mir weh, wie sie von dir sprach. Aber ich kann sie auch wiederum verstehen- du kannst so herablassend sein. Und dein gemeines, ätzendes Gelächter habe ich oft schon gehört. Manchmal galt es mir. N. war übrigens auch da- wir hatten kurz vorher über facebook erfahren, dass er geheiratet hat. Er hat weder Papa, noch D. eingeladen. Papa, der ihn nach dem Tod seines Bruders und meines Onkels und dessen Vater so geholfen hat, und immer da war, wenn er jemanden brauchte. Und D., mit dem er als Kind doch immer gespielt hatte.
Das müsste doch jetzt Wasser auf deinen Mühlen sein.
Er meinte, dass er auf seiner Hochzeit, die der schönste Tag in seinem Leben war, die Familie nicht zusammen führen wollte, die auseinander gelebt ist. Ich habe ihn darauf gefragt, wie er dazu kommt, anzunehmen, dass es so sei. Denn es ist wohl klar, dass jeder sein Leben lebt, jeder in einer anderen Stadt. Aber das heißt doch nicht, dass die Familie zerrissen ist.
Ich habe nicht genau mitbekommen, wie das damals mit W. war. Das muss für N. und M. richtig elend gewesen sein, ihren Vater dahingerafft zu sehen, wie er sich ganz langsam vom Leben verabschiedete. Aber ist es so, dass damals jeder wusste, dass er krank war? Wusste die Familie, dass er manisch-depressiv war? N. hat, soweit ich das verstanden habe, der Familie vorgeworfen, sie hätten seinen Vater im Stich gelassen. Sonst wäre er wohl nicht mit ein paar Backsteinen von zwei besoffenen Verbrechern auf offener Straße erschlagen worden. Drei Jahre für Mord. Da verlierst du echt den Glauben an die Menschheit.
Ja, was denkst du?
Papa hat gemeint, er hätte mit allen Mitteln versucht, W. zu retten. Hat ihn im Keller an die Heizung gekettet, um ihn auszunüchtern. Was ist da passiert? Ich kann mich nur noch daran erinnern, wie er in völligem Delirium unsere Tür mit einer Axt einschlagen wollte. Damals war Cousine S. bei uns zu Besuch. A., sie und ich haben uns zu Tode erschreckt. Das sei wohl schon mal passiert, als W. noch mit seiner Familie neben uns wohnte, erzählte Papa.
Als Kind habe ich immer, wenn er angerufen hat, auf irgendwelchen Fantasiesprachen geantwortet, weil ich nicht ertragen konnte, dass er wieder lallend unsere Ruhe störte. Du warst bis zum Schluss die Letzte und einzige, die zu ihm gehalten hat, die immer wieder mit ihm gesprochen hat. Vielleicht weil du ahntest, was er für Qualen ausstand? Du hast einfach ein Händchen für Menschen. Mich hat es immer fasziniert, wie du punktgenau die Schwachstelle eines Menschen ausloten und verbalisieren konntest. Oft haben wir alle darunter leiden müssen. So unglaublich mütterlich und warm es bei dir und mit dir sein konnte, so kalt und herzlos und bitterböse konntest du sein. Dabei konntest du sehr überzeugend sein. A. und ich haben oft an uns gezweifelt. Du hast uns einmal vorgeworfen, dass wir Kaugummi hinter die Heizkörper geklebt hätten. Ich konnte mich partout nicht erinnern. Trotzdem habe ich irgendwann gezweifelt, ob ich es nicht doch getan hatte.
Das reicht für heute.
B.
http://www.youtube.com/watch?v=BKdspWe-KdQB.
Es ist so schwierig, einen Brief an dich zu richten. Ich frage mich zuallererst, wie ich dich ansprechen soll. Mama. Eigentlich möchte ich dich gar nicht so nennen. Ich fange neu an.
Sigrid.
Lange haben wir uns nicht gesprochen. Zuletzt im Sommer, als ich daheim war. Nein, ich vertue mich. Zuletzt an Omas Beerdigung. Du sahst abgezehrt aus. Deine Haare waren ganz struppig, bemerkte Papa- ich habe nur deine weiche Haut an meiner Wange gespürt, als wir uns flüchtig begrüßten. Mehr wie ein Schmetterlingskuss. Gerade denke ich, dass es von mir gut gewesen wäre, dich an meine Seite, und in die erste Reihe mitzunehmen. Ich hasse mich gerade dafür, dass ich dich so kühl und kurz begrüßt habe.
Beim Leichenschmaus wurde natürlich über dich geredet. Tante E. hat wohl mitbekommen, dass du über wen auch immer gelacht hast, und dich zurechtgewiesen. Sie ist ja nie um ein harsches Wort verlegen. E., die, als sie den Eiffelturm zum ersten Mal sah, meinte: „Den hättense aber auch mal putzen können!“. Es tat mir weh, wie sie von dir sprach. Aber ich kann sie auch wiederum verstehen- du kannst so herablassend sein. Und dein gemeines, ätzendes Gelächter habe ich oft schon gehört. Manchmal galt es mir. N. war übrigens auch da- wir hatten kurz vorher über facebook erfahren, dass er geheiratet hat. Er hat weder Papa, noch D. eingeladen. Papa, der ihn nach dem Tod seines Bruders und meines Onkels und dessen Vater so geholfen hat, und immer da war, wenn er jemanden brauchte. Und D., mit dem er als Kind doch immer gespielt hatte.
Das müsste doch jetzt Wasser auf deinen Mühlen sein.
Er meinte, dass er auf seiner Hochzeit, die der schönste Tag in seinem Leben war, die Familie nicht zusammen führen wollte, die auseinander gelebt ist. Ich habe ihn darauf gefragt, wie er dazu kommt, anzunehmen, dass es so sei. Denn es ist wohl klar, dass jeder sein Leben lebt, jeder in einer anderen Stadt. Aber das heißt doch nicht, dass die Familie zerrissen ist.
Ich habe nicht genau mitbekommen, wie das damals mit W. war. Das muss für N. und M. richtig elend gewesen sein, ihren Vater dahingerafft zu sehen, wie er sich ganz langsam vom Leben verabschiedete. Aber ist es so, dass damals jeder wusste, dass er krank war? Wusste die Familie, dass er manisch-depressiv war? N. hat, soweit ich das verstanden habe, der Familie vorgeworfen, sie hätten seinen Vater im Stich gelassen. Sonst wäre er wohl nicht mit ein paar Backsteinen von zwei besoffenen Verbrechern auf offener Straße erschlagen worden. Drei Jahre für Mord. Da verlierst du echt den Glauben an die Menschheit.
Ja, was denkst du?
Papa hat gemeint, er hätte mit allen Mitteln versucht, W. zu retten. Hat ihn im Keller an die Heizung gekettet, um ihn auszunüchtern. Was ist da passiert? Ich kann mich nur noch daran erinnern, wie er in völligem Delirium unsere Tür mit einer Axt einschlagen wollte. Damals war Cousine S. bei uns zu Besuch. A., sie und ich haben uns zu Tode erschreckt. Das sei wohl schon mal passiert, als W. noch mit seiner Familie neben uns wohnte, erzählte Papa.
Als Kind habe ich immer, wenn er angerufen hat, auf irgendwelchen Fantasiesprachen geantwortet, weil ich nicht ertragen konnte, dass er wieder lallend unsere Ruhe störte. Du warst bis zum Schluss die Letzte und einzige, die zu ihm gehalten hat, die immer wieder mit ihm gesprochen hat. Vielleicht weil du ahntest, was er für Qualen ausstand? Du hast einfach ein Händchen für Menschen. Mich hat es immer fasziniert, wie du punktgenau die Schwachstelle eines Menschen ausloten und verbalisieren konntest. Oft haben wir alle darunter leiden müssen. So unglaublich mütterlich und warm es bei dir und mit dir sein konnte, so kalt und herzlos und bitterböse konntest du sein. Dabei konntest du sehr überzeugend sein. A. und ich haben oft an uns gezweifelt. Du hast uns einmal vorgeworfen, dass wir Kaugummi hinter die Heizkörper geklebt hätten. Ich konnte mich partout nicht erinnern. Trotzdem habe ich irgendwann gezweifelt, ob ich es nicht doch getan hatte.
Das reicht für heute.
B.
http://www.youtube.com/watch?v=BKdspWe-KdQB.